„Wie ein Lichtstrahl aus der Finsternis“
Briefe von Frauen aus der Ukraine.
Aurélie Bros (Hrg).
Übersetzung von Lydia Nagel.
Fotografen von Daria Biliak, Kristina Parioti und Anastasia Potapova.
München 2023
„ Besatzung, Filtrationslager, Gefangenschaft – hinter diesen Worten verbergen sich so unmenschliche Grausamkeiten, dass es unmöglich ist, sie zu beschreiben. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass jedes mit Worten beschriebene Grauen abgewertet, abgeschwächt wird, nicht mehr so schrecklich und irgendwie akzeptabel erscheint. Im Moment ist dieser Krieg einfach nicht zu begreifen, weder für diejenigen, die ihn erleben, noch für diejenigen, die ihn aus der Ferne betrachten. Die Menschheit wird das alles erst mit der Zeit erfassen können.“
(Anastaija Hruba, 141/3)
I
Sie wollte „das Paradoxon des Krieges …verdeutlichen“ schreibt Aurélie Bros‘ in der Einleitung zu dem Buch „Wie ein Lichtstrahl aus der Finsternis“. Als Expertin für osteuropäische Geopolitik hatte sie ein Projekt des HANDELSBLATT angenommen, um ukrainische JournalistInnen während des Krieges zu unterstützen. Aufgrund ihrer Erlebnisse vor Ort in der Ukraine hat sie das Projekt kurzfristig umgewidmet und eine Dokumentation von Briefen aus dem Zeitraum Sommer 2022 zusammengestellt.
Es ist ein ’anderes‘ Buch über den Krieg, als wir es kennen, es besteht aus 38 Briefen von Frauen aus der Ukraine, in denen sie der ‚freien‘ Welt ihre Sicht auf den Krieg beschreiben. Was haben sie uns zu sagen? Es sind Dokumente von äußerster Offenheit und Direktheit, Erzählungen persönlicher Erlebnisse und kritische Selbstreflektionen: es ist ein außergewöhnliches Buch.
II
Wir hören/sehen täglich in den Medien die Berichterstattung aus den Kriegsgebieten. Aber was geschieht dort mit den Menschen, die nicht unmittelbar an der Front sind? Was bewegt sie, wie leben sie vor Ort und wie überleben sie? Sich auf Frauen zu konzentrieren, war deshalb naheliegend, um von ihnen, den Zurückgebliebenen und den Geflüchteten, zu berichten, von denen wir wenig wissen. Die Briefeschreiberinnen sind teenager, junge Frauen, Lesben, Mütter und Ehefrauen. Ältere Frauen haben aus Angst vor möglichen Folgen ihre bereits angefertigten Briefe wieder zurückgezogen.
Das ‚Medium‘ Brief‘ ermöglicht eine subjektive Stellungnahme, auch wenn in diesem Fall die EmpfängerInnen eine anonyme Öffentlichkeit sind. Briefe geben persönliche Empfindungen weiter und überlassen den LeserInnen selbst eine Interpretation oder eine Deutung. Sie ermöglichen eine reziprok offene Kommunikation, das ist ihre Besonderheit.
Jeder Beitrag beginnt mit einem Foto und einem Kurzportrait: Name, Geburtsjahr und Geburtsort, Aufenthalt am 24. Februar 2022 und im Sommer 2022. Es gibt eine kurze Einführung der Herausgeberin über die Entstehungsgeschichte des Buches und ein Nachwort von Emily Channel-Justice, einer amerikanischen Anthropologin, über die Rolle der Frau in der ukrainischen Gesellschaft.
III
Die Briefeschreiberinnen beeindrucken als ‚kämpferische‘ Frauen, durch ihren Mut und ihr Engagement und vor allem durch ihre tiefen Gedanken.
Sie fliehen, um sich und ihre Töchter, Söhne und Angehörige zu schützen, sie organisieren Freiwilligendienste, sie kehren zurück, um sich am Widerstand zu beteiligen. Sie ‚wissen‘, warum sie es tun. Sie alle haben Fremdherrschaft und Gewalt erlebt, sei es persönlich oder aufgrund der Erlebnisse von Familienangehörigen. Sie lieben ihr Land und kämpfen – nicht für eine bestimmte Ideologie oder die Idee einer Nation, sondern für individuelle und gesellschaftliche Rechte als freie Subjekte.
Primäres Thema der Briefe ist die Angst: die existentielle Angst vor Vernichtung (Panzer in den Straßen), die Angst vor Verlust und Bodenlosigkeit: „Wenn man zum ersten Mal im Leben eine Sirene hört, hat man unglaubliche Angst. Am Himmel Spuren von feindlichen Flugzeugen zu sehen, ist einfach schrecklich“ (Stefanija Starowojitowa, 191).
Die Flucht ist für einige von ihnen die erste Reaktion, verbunden mit unvorstellbarem Stress und unsäglichem Leid: „Nach groben Schätzungen sagte der Schaffner des Waggons, dass 4.000 Menschen in dem Zug unterwegs waren. Es gab kein einziges freies Plätzchen. So wie ich eingestiegen war, blieb ich in der derselben Position stehen, und wir fuhren 12 Stunden lang“ (Olha Olschanska, 176).
Die Trennung von den Lieben erzeugt Trauer und Schmerz, Gefangenschaft unerträgliches Leid: „Wie kann man sich fühlen, wenn das Leben zur Hölle geworden ist, wenn man von zu Hause flieht, um die Kinder zu retten, und sich von dem Geliebten verabschieden muss, der an die Front geht, um sein Heimatland zu verteidigen? (Jana Matwijtschuk, 199)
Aber – und das ist im Medium des Briefe-Schreibens angelegt, aus dem Prozess des Berichtens entstehen Reflektionen und Selbstanalysen:„Aber eines begriff ich mit großer Klarheit – der Krieg macht einem deutlich, was für einen besonderen Wert das Leben hat. Und er brachte die Einsicht, dass es nie wieder so sein würde wie früher. Der Prozess der Anpassung an die neuen Realitäten begann“ (Maryna Kamenska, 188). Alle Frauen überlegen sich, wie sie aktiv werden und den Kampf ihres Landes unterstützen können, einige melden sich zum Militärdienst.
IV
Ohne jeglichen feministischen Anspruch ist das Buch ein faszinierendes feministisches Projekt geworden. Es zeigt die ‚weibliche‘ Seite des Krieges, was er für Frauen und Angehörige bedeutet. Es handelt vom Grauen, aber durch die Art und Weise, wie sich die Frauen der Realität stellen, vermitteln sie Kraft und Stärke.
In Krisenzeiten entstehen häufig neue Ideen und mutige Projekte. Den ukrainischen Frauen einen Raum zu geben, indem sie sich subjektiv und emotional ausdrücken und mitteilen können, macht sie – gegen die Kriegslogik – zu souveränen Subjekten. Durch die ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Fotografien erhält jeder Brief ein Gesicht. Die LeserInnen – anders als die Schreiberinnen sehen ein Gegenüber. Alle Frauen haben uns Bedeutsames mit zu teilen und werden so zu individuellen Persönlichkeiten mit spezifischer Ausstrahlung und Botschaft.
Diese Besonderheit des Buches verdankt sich dem Mut und der Empathie der Herausgeberin Aurélie Bros. Sie hat auf theoretische oder rhetorische Vorgaben verzichtet und den Frauen die Verantwortung für ihre Texte selbst überlassen. Ihr Vertrauen in die Frauen hat sich bewährt. Obwohl oder weil sie in einer brutalen Kriegswirklichkeit leben, gelingt es ihnen, sich uns mitzuteilen und uns mit ihrer Offenheit zu berühren.
V
„In diesem Krieg haben alle Erfahrungen ihren Wert, ihre Bedeutung. Und wie hart die Erinnerungen an den Krieg auch sein mögen, sie sollten ebenso sorgfältig bewahrt werden, denn gerade sie können uns vor weiteren Kriegen schützen.
Bewahren Sie Ihre Erinnerungen.
Wir sind alles, was wir haben.“
(Kateryna Jakowlenko, 299)
10/2023