Herausgegeben von Tove Soiland, Marie Frühauf und Anna Hartmann
Wien. Berlin 2022
I
Nach der Lektüre beider Bände erscheint die vorgenommene Aufteilung in zwei Schwerpunkte unglücklich. Sie reproduziert das Dilemma, dass in der allgemeinen Analyse des patriarchalen Systems das Besondere sekundär erscheint. Deswegen entsteht die Notwendigkeit die Themenstellung bezüglich der Situation der Frauen explizit, das heißt getrennt zu formulieren: Wie hat sich das Geschlechterverhältnis und das Denken der sexuellen Differenz* in den letzten Jahren entwickelt? Wie im ersten Band sind Beiträge von Autorinnen aus verschiedenen Ländern wie Frankreich, den Vereinigten Staaten, Italien, Holland und Slowenien aus dem Zeitraum von 1985 bis 2019 zusammengestellt.
II
Die Herausgeberinnen resümieren selbst, dass in den Beiträgen des ersten Bandes über das Ende der ödipalen, patriarchalen Gesellschaft die Auswirkungen dieses Vorgangs auf das Geschlechterverhältnis unzureichend thematisiert und reflektiert werden. Dabei drängt sich die Frage unmittelbar auf, was mit dem Weiblichen/Mütterlichen wird, wenn die Autorität des Vaters schwindet.
Die theoretische Situation ist schwierig. Es gibt so etwas wie eine „generelle Rezeptionssperre“ (Marie Frühauf/ Anna Hartmann, 24) gegenüber dem Denken der sexuellen Differenz. Auch die neuere Lacan-Rezeption bezieht sich kaum auf die Positionen französischer und italienischer Differenz-Philosophinnen. So stehen in Band 2 kontroverse Beiträge nebeneinander. Nach der Kritik von Luce Irigaray an der Lacan‘schen Auffassung der Psychoanalyse entsteht zum Beispiel die Frage, warum es überhaupt ein ‚weiter so‘ mit den Lacan’schen Begriffen geben konnte.
Die Herausgeberinnen lassen diese Widersprüche wahrscheinlich absichtlich (aber warum kommentarlos?) stehen. Das hat seinen Reiz, erzeugt aber auch ein leichtes Unbehagen eines nicht zu Ende Gedachten. Aber der Leitfaden der Sammlung ist klar: wie entwickelt sich Geschlechterverhältnis in der postödipalen Gesellschaft?
III
In Band 2 sind die Texte in vier Abteilungen unter folgende Themen gruppiert: die Grundlagen der Sexuierung nach Lacan, die Theorie des ‚Regime des Bruders‘, das Verhältnis von sexueller Differenz und Kapitalismus sowie die Diskussion zur Mutter im italienischen Differenz-Feminismus.
Ich stelle ein Resümee von Ida Dominijanni voran: „ Dieser Sprung hat nicht stattgefunden“ (227). Das Denken der sexuellen Differenz hat nicht zu einem erwarteten und erhofften Wandel geführt. Der theoretische Diskurs ist quasi ausgebremst, die Kritik wurde ins Abseits geschickt. Hierzu eine Auswahl von Beiträgen.
Anschließend an Lacan entwickelt Geneviève Morel ein Konzept der Sexuierung, das den Prozess des Geschlechtwerdens in drei Etappen beschreibt. Es gibt Bezüge zum anatomischen Geschlecht, dem sexuellen Diskurs und eine Wahl des Geschlechts gemäß dem Begehren. Für Lacan ist evident, „dass die weibliche Sexuierung nicht nach demselben Muster verläuft wie die männliche“(73). Geneviève Morel zeigt darüber hinaus, dass die Geschlechtsidentität mit dem Gender-Begriff als soziale Konstruktion nicht ausreichend erfasst werden kann.
Der Beitrag von Luce Irigaray ist eine Fundamentalkritik an Lacan und seinem Verständnis der Psychoanalyse. Sie kritisiert den Phallogozentrismus seines Denkens, die Engführung des strukturalistischen Ansatzes, die einseitige Reduktion auf Sprache und die daraus resultierende Verkennung, Missachtung und Diskreditierung der Frau. Sie wirft Lacan eine „ignorante Parteilichkeit“ vor, die seine „gesamte(n) Repräsentationssysteme reguliert, [sie] zeugt von dem Widerstand, die Differenz Mann-Frau, so, wie sie sich… präsentiert, zu befragen, wie sie sich im Innern eines einzigen und selben Diskurses stattfindend, der seine geschlechtlichen Determinationen verkennt“ (145).
Anne van Leeuwen sieht eine Ursache der Abseitsposition der sexuellen Differenz darin, dass sich feministische Theoriebildung zu sehr auf Identitäts- und Kulturpolitik konzentriert und die Auswirkungen der antagonistischen Grundstruktur des kapitalistischen Systems auf die Subjekte vernachlässigt hat. Wie Massimo Recalcati (siehe Band1) zeigt, negiert die neue Regulierungsform des neoliberalen, globalen Kapitalismus die Geschlechterdifferenz. Der ‚Imperativ des Genießens‘ gilt für alle gleich. Die Frage nach weiblicher Subjektivität erscheint irrelevant und das neue pathologische Phänomen der ‚inneren Leere‘ junger Frauen bliebt gesellschaftlich weitgehend verborgen.
In Italien hat der philosophische Feminismus ein Konzept politischer Praxis von Frauen entwickelt, das in der Öffentlichkeit eine große Wirkung erreicht hat – aber einen Ministerpräsidenten Berlusconi dennoch nicht verhindern konnte. Diana Sartori Ghirardini stellt fest, dass es nicht gelungen ist, den „Ausschluss der Mutter aus dem Politischen“ (335) zu überwinden. Die Reflexion des Werdens eines Subjektes, der Ursprung des Lebens und die Relevanz von Beziehungsnetzen im sozialen Leben werden weiter verdrängt. Im Gegenteil entstehen neue, abstrakte Machtsysteme wie die ‚Biopolitik‘, mit denen Leben noch effektiver verwaltet wird.
Auch Ida Dominijanni fragt, warum es nicht gelungen ist, die symbolische Ordnung der Mutter umfassender zu etablieren. Sie sieht weiteren Forschungsbedarf in Bezug auf die Mutter-Kind-Beziehung, die primordiale Prägung. Sie fragt selbstkritisch: “Inwieweit waren wir bereit, im Tausch mit der Anerkennung von Autorität an Sexualität zu verlieren, und sind damit selber auf die schiefe Bahn der Wiederholung der traditionellen Mutterfigur geraten“ (403).
IV
Für den feministischen Diskurs entstehen in diesem Band dringliche Fragen: warum gibt es ein Weiterdenken nach Lacan, nicht aber nach Luce Irigaray? Warum gibt es keine grundlegende Kritik der gender-Theorie und ihrer problematischen Einmündung in eine Identitätspolitik? Warum gibt es keinen Diskurs über die Unterschiede der Definition von Differenz in Frankreich und Italien? Wie konnte es passieren, dass das Thema der weiblichen Sexualität, das zu Beginn des Feminismus eine so große Bedeutung hatte, völlig vereinnahmt und entleert wurde?
V
Dass diese Fragen jetzt in der Situation eines globalen Wandels, der gesellschaftliche Veränderungen in einem bisher unvorhersehbaren Ausmaß ankündigt, (wieder) auftreten, dürfte kein Zufall sein.
Aber: „ Für das gesellschaftliche Imaginäre sind wir die Mütter. Die reale oder phantasmatische Wahrnehmung der Mutter reflektiert unmittelbar die reale oder phantasmatische Wahrnehmung dessen, was wir im Feminismus gemacht oder gesagt haben, deshalb ist der Versuch, diese zu dechiffrieren, so wichtig und zugleich so schwierig“. (Ida Dominijanni, 400)
*Ich übernehme hier diesen Begriff der Autorinnen, ich selbst bezeichne es als Denken der Geschlechterdifferenz.
8/2022