Herausgegeben von Tove Soiland, Marie Frühauf und Anna Hartmann
Wien. Berlin 2022
I
Das Anliegen der Herausgeberinnen ist die Vorstellung von Thesen und Texten einer politischen Reflexion Lacan’scher Theorie, die im deutschsprachigen Raum nicht bekannt sind. Die Texte stammen von Autoren der sogenannten Schule von Llubljana (S.Žižek u.a.), aus den USA, Italien, Frankreich und Großbritannien.
In den zwei Sammelbänden werden unterschiedliche Schwerpunkte behandelt: in Band 1 die These der Postödipalen Gesellschaft, in Band 2 die These der Sexuellen Differenz in der postödipalen Gesellschaft. Die Texte in Band 1 wurden in dem Zeitraum zwischen 2004 bis 2016 publiziert. Die dort vorgetragenen Überlegungen sind dennoch hochaktuell in Bezug auf das, was wir in der gesellschaftlichen Regulierung der Pandemie aktuell erleben konnten. Aber vielleicht sind sie angesichts der gegenwärtig angekündigten ‚Zeitenwende‘, einer sich anbahnenden neuen Form gesellschaftlicher Organisation auch schon wieder passé ?!
II
Vorweg gesagt, die Lacan’sche Terminologie ist für Nicht-Experten eine Herausforderung. Doch im deutschsprachigen Raum mangelt es an Analysen der komplexen Wechselbeziehungen zwischen Politischer Ökonomie und Subjektivität, wie sie lange Zeit von der Kritischen Theorie geleistet wurden. Das Zusammendenken von Faktischem und Symbolischen hat sich einseitig auf das Erstere Verschoben, so dass die Aspekte libidinösen Begehrens weitestgehend ausgeblendet wurden. In der Theorie entstand eine Tendenz zur Vereindeutigung, als Negation alles Unbestimmbaren, Unsagbaren und Unfassbaren. Das mag schon ein Effekt des neuen Gesellschaftsmodells und seiner Wissensorganisation sein.
Die Kernthese des ersten Bandes behandelt die psychoanalytische Reflexion des Untergangs des Vaters als Identifikationsfigur. Seine (symbolische) Funktion in der Ausbildung individueller und gesellschaftlicher Selbstwerdung, in der Verkörperung von Autorität im Gesetz, in der Regulierung von Verboten und im Gebot der Selbstdisziplin schwächt sich ab (diese Diagnose hatte schon Freud selbst gestellt). Die psychosozialen Folgen sind Prozesse der Entfesselung und Enthemmung libidinöser Kräfte, die sich im sozialen und gesellschaftlichen Bereich als Disziplin- und Respektlosigkeit, als Entgrenzung von Schamgefühlen und der Herabsetzung von Aggressionshemmungen bemerkbar machen.
Diese Tendenzen werden aber in neuer Form reguliert beziehungsweise umgekehrt, neue ökonomische Strukturen bringen genau diese Verhaltensformen hervor! So deuten die Autoren der verschiedenen Texte die Auswirkungen des Neoliberalismus und der Globalisierung, die in ihrer Aufforderung zum unendlichen Konsumieren eine neue Strategie politischer Regulierung einführen: das ‚Genießen‘ wird zum Imperativ!
‚Genießen‘ ist im Lacan’schen Kontext immer mehr als Konsumieren. ‚Genießen‘ leitet libidinöse Energie, es bedeutet die Suche nach Befriedigung, die über die rein materielle Sättigung hinausgeht. In diesem Sinn ist ‚Genießen‘ immer ein Überschreiten, das Spiel mit einem Verbot, das eine spezielle Befriedigung verspricht, aber letztlich unerfüllbar bleibt.
III
In dem Band 1 Postödipale Gesellschaft werden drei Themenkomplexe behandelt: die Theorie Lacans heute, seine Theorie der vier Diskurse und eine Zeitdiagnose. Hier werden drei Thesen zur Zeitdiagnose vorgestellt.
Der expandierende Kapitalismus der letzten Jahrzehnte bewirkt eine Veränderung der Psychostruktur seiner Subjekte. Das Über-Ich als Kontroll- und Sanktionsinstanz individueller Persönlichkeit verliert an Bedeutung. Das Ego, der Narzissmus, Selbstbefriedigung und Selbstverwirklichung treten in den Vordergrund psychischer Dispositionen. In der modernen, neoliberalen Gesellschaft scheint alles erlaubt, es muss nichts mehr verdrängt werden: in der Folge verflüchtigt sich das Unbewusste (Massimo Recalcati 259ff). Es entsteht eine neue Psychopathologie: die innere Leere. Anders als bei der Neurose, deren Ursache eine Verdrängung ist, leidet das Subjekt heute an der Leere, die als Abwehrmechanismus Angst hervorbringt (Depression, Anorexie, Bulimie, Drogensucht etc.).
„ Der Mensch ohne Unbewusstes wäre ein Mensch, der – auf die unmenschliche Existenz der Maschine, auf ein automatisches Funktionieren bar jedes Begehrens reduziert – von einem triebhaften Drang belebt wäre, kopflos, bedingungslos, ohne Verankerung in der symbolischen Kastration“ (Massimo Recalcati 259). Die Folge sind Gefühle der Entwurzelung, Haltlosigkeit und Verunsicherung.
Der fehlenden Verankerung in einem symbolischen Kontext und der damit möglichen Reflexion des Selbstzustandes begegnet das polit-ökonomische System mit Angeboten permanenten ‚Genießens‘. Die Leere wird erstickt, der Körper auf das Instrument des ‚Genießens‘ reduziert; alles gerät unter die Herrschaft der Objekte/Produkte, die so die sozialen Beziehungen leiten und regulieren.
Auf politischer Ebene entsprechen diesen psychopathologischen Veränderungen neue Formen von Macht. Todd McGowan bezeichnet sie als ‚Herrschaft von Experten‘ (363). Der Gedanke neuer Machtdispositive geht auf Michel Foucault zurück, seiner Auffassung zufolge werden in den modernen Gesellschaften persönliche und institutionelle Autoritäten zunehmend von diffusen Netzwerken ersetzt.
In den Expertensystemen wird „Wissen zur Quelle sozialer Autorität“. (Der Beitrag von Todd McGowan wurde vor der Sars-Covid-19 Pandemie verfasst, analysiert aber exakt die Machtstrategie bundesrepublikanischer Gesundheitspolitik.) Wissen wird nicht mehr neutral als Information verbreitet, sondern erhält einen Gebotscharakter. Es übernimmt moralische Funktionen und besagt, was zu tun und zu lassen ist. Das bedeutet bei gleichzeitiger Verbreitung unendlicher Daten von Informationen zugleich eine Entwertung des Wissens. Wissen als Information oder Aussage kann diskutiert werden, als Gebot muss es befolgt, also geglaubt werden. In der Missachtung dieses wesentlichen Unterschiedes verliert der Diskurs, die Auseinandersetzung an Bedeutung, es geht nur noch um die Verteidigung von Behauptungen/Glaubenssätzen.
An diesem Vorgang wird deutlich, dass auch das Ideal der Aufklärung, durch Wissen und Bildung Bewusstsein und Verhalten als vernünftiges zu beeinflussen, brüchig wird: „… das Wissen [verliert] seine Verbindung zum Aufklärungsprojekt einer allgemeinen Emanzipation. Wissen wird eher zu einer Kraft der Unterwerfung als zu einer der Befreiung. Die Aufklärung wird folglich in ihr Gegenteil verwandelt“( Todd MacGowan 368).
Diese Veränderung ist schon Bestandteil unseres gesellschaftlichen Lebens: in Form permanenter medialer Reiz- und Bild-Überflutung werden Informationen und Botschaften eher konsumiert als reflektiert. Die medialen Produkte sind Waren wie andere auch, sie werden Teil des überquellenden ‚Genießen‘- Programms.
Als “ postideologischen Totalitarismus“ (331) bezeichnet Massimo Recalcati eine neue Herrschaftsstrategie, die infolge neoliberaler Ökonomie ein drittes Element gegenwärtiger Vergesellschaftung ausmacht. Das Verschwinden von Idealen, die Entwurzelung und Desorientierung der Subjekte, ihre Unterwerfung unter den Imperativ des ‚Genießens‘ erzeugt ein neues Erlösungsprogramm im ‚Hyper-Konsum‘. Doch das Heilsversprechen kann nicht eingelöst werden, weil die Objekte selber leer sind und deren Nachfrage unendlich gesteigert werden muss, um das System am Laufen zu halten. Die Wirkungsweise dieses Systems ist umso problematischer, weil sein Totalitarismus an keinen spezifischen Inhalt mehr gebunden scheint. Damit verflüchtigen sich Vorstellungen von Transzendenz und Kritik, die ein Aufbegehren und Gegenreaktionen erlauben würden. „Der postideologische Totalitarismus ist keine Weltanschauung, sondern der Untergang jeder möglichen Weltanschauung. Er erdrückt das Leben unter einer Präsenz, der Unmittelbarkeit eines allgegenwärtigen Genießens und entleert es so auf fatale Weise“ (Massimo Recalcati 352).
IV
Worin besteht das feministische Potential dieses Buches?
Auf den ersten Blick scheint es gering. Wenn sich die Psychostruktur der neuen Subjekte auf das Ich konzentriert und seinen Wunsch nach Genuss, verliert das jeweils andere Geschlecht an Bedeutung.
Auffallend ist, dass die Präsentation der Beiträge nicht nur in zwei Bände, sondern auch in zwei Blöcke zerfällt. Die allgemeine Analyse geht der geschlechtertheoretischen voraus, zuerst die Autoren, dann die Autorinnen. Das bleibt in der Tradition der ‚Frauenfrage‘ als Nebenwiderspruch.
V
Es ist ein Buch, das zum Denken anregt. Es gibt viele Thesen, die geeignet sind, die gegenwärtige Realität genauer zu beobachten und zu analysieren.
Alle AutorInnen denken das Grunddilemma menschlicher Subjektivität, die Dialektik von Selbst und Welt.
Das ist nicht neu, aber vielleicht aktueller denn je.
6/2022