Berlin 2021
„….weil es ein „Wir“ gegeben hat…… “ (66)
I
Es ist ein Buch über das Ungeheuerliche, das Unfassbare, das Zusammenbrechen eines Tabus. In der Wildnis von Kamtschatka trifft die Anthropologin Nastassja Martin auf einen Bären. Der Choc ist nicht die gegenseitige körperliche Verletzung, sondern die Wahrnehmung einer unglaublichen Empfindung: die Auflösung der Grenze zwischen Mensch und Tier. Die ‚radikale Alterität‘ wird als Nähe spürbar.
II
Nastassja Martin steht in der Tradition der französischen Anthropologie/Ethnologie. Sie hat bei Philippe Desccola, einem Schüler von Claude Lévi-Strauss, studiert. In ihrer ersten großen Feldstudie „Les âmes sauvages “ (2016) forschte sie über Geistvorstellungen der Gwich’in in Alaska. In 2015 beginnt sie ein neues Projekt bei den Ewenen auf Kamtschatka.
III
Das Buch ‚An das Wilde glauben‘, das sich jeder Genre-Bezeichnung entzieht, ist das Ergebnis einer Reflexion der Begegnung mit dem ‚Anderen‘, nicht mit einem anderen Menschen oder etwas Übersinnlichem, sondern mit einem Bären. Was diese Begegnung in ihr auslöst, versucht sie schreibend zu versinnbildlichen und zu verarbeiten.
Das Ungeheuerliche ihres Erlebnisses ist der durch die Begegnung ausgelöste Choc: das Empfinden eines Wir-Gefühls, das Außer-Kraft-Setzen der Abgrenzung von Mensch und Tier. Damit bricht alles zusammen, ihr Selbstgefühl, ihre Weltsicht, die Kategorien des Lebens und Denkens selbst. Sie gerät in einen Strudel der Auflösung von bisherigen Gewissheiten und in eine unendliche Suche nach einem neuen Halt. Dabei ist sie Expertin für die Geist- und Seelenvorstellungen indigener Völker, sie ist mit dem Thema vertraut. Trotzdem und vielleicht deswegen durchdringt es sie zutiefst.
Der Text ist eine Suche nach Worten und Ausdrücken für das, was sie erlebt hat. Ihre Gedanken, ihr Text sind so dicht und zugleich so offen, dass es die LeserIn in diese andere Welt hineinzieht. Man möchte es verstehen, was da passiert ist und gerät dabei selber in den Zwiespalt von Imagination und Realität.
IV
Sich selbst so weit zu öffnen, an die eigenen Grenzen zu gehen und andere daran teilhaben zu lassen, ist außerordentlich mutig. Trotz aller beschriebenen Turbulenzen bewahrt Nastassja Martin eine klare Distanz zu dem Geschehenen und zu sich selbst, damit entgeht sie jeglicher Gefahr einer Mystifizierung – und das ist vielleicht das ganz Besondere. Es gelingt ihr, das eigene Denken in der ‚Schwebe‘ zu halten, Unerklärbares stehen zu lassen, Ungewissheiten zu benennen, das ‚Andere‘ sein zu lassen. So entspricht ihr Schreiben ihrem sujet.
V
Das Buch ist außergewöhnlich wegen des Themas, es ist aufregend wegen des Ereignisses, es ist tief wegen der Gedanken, es ist ein Beispiel reflektierter Subjektivität und deswegen grundlegend philosophisch. Darüber hinaus ist es aktuell: wie wollen/können wir in Zukunft mit den Tieren (Viren) leben?
4/2021