Kritische Theorie und Feminismus
Herausgegeben von Karin Stögner und Alexandra Colligs
Frankfurt 2022
„In zentralen Schriften Horkheimers und Adornos, etwa in der Dialektik der Aufklärung, sind Bilder des Weiblichen ein Index zivilisatorischen Unrechts. Sie sind mit der Kritik jener Vernunft verknüpft, die das Subjekt und den Körper kontext- und körperlos setzt.“ (Stögner, 97)
I

Das Buch trägt einen anspruchsvollen und vielversprechenden Titel, der Erwartungen weckt.
Die Mehrzahl der insgesamt 18 Beiträge ist für einen Kongress 2019 in Frankfurt entstanden, auf dem das Verhältnis von Kritischer Theorie und Feminismus als Spannungsverhältnis analysiert werden sollte. Durch die AutorInnen sind nicht nur verschiedene Wissenschaftsdisziplinen vertreten, sondern auch verschiedene Generationen, so dass durch die Beiträge zugleich ein historischer Überblick über die feministische Diskussion mit Bezug auf die Kritische Theorie entsteht.

II

Die Herausgeberin Karin Stögner möchte Kritische Theorie und Feminismus „in einer Konstellation begreifen und ihrem inneren Zusammenhang nachspüren“ (12). Letztlich sollen Anstöße zum „Weitertreiben der feministischen kritischen Theorie gegeben werden“ (36). Entsprechend dieser sehr offenen Zielsetzung sowohl des Verständnisses von Kritischer Theorie als auch hinsichtlich einer konkreten Fragestellung ( wie z.B. Subjekt und Identitätsbegriff) gehen die Beiträge in viele Richtungen.
Die Abhandlungen sind vier Themenschwerpunkten zugeordnet: Feministische Ideologiekritik; Kritik feministischer Perspektiven auf Produktion und Reproduktion; Subjekt und Differenz sowie Psychoanalytische Perspektiven auf Vergeschlechtlichung und Herrschaft.

III

In ihrer Analyse von Weiblichkeit skizzieren Horkheimer und Adorno ein Dilemma: „Die Frau ist nicht Subjekt“ ( DdA, Mensch und Tier). Sie kann es im Kontext kapitalistischer Arbeitsteilung, bürgerlicher Institutionen wie Ehe und Familie und der hierarchischen Struktur der Identitätslogik auch nicht werden, nur als ‚gebrochene‘. Es sind strukturelle Bedingungen, die auch unsere aktuelle Gesellschaftsformation prägen und die tief in der symbolischen Ordnung des Geschlechterverhältnisses verankert sind. Identitätslogik und Sprache rekonstruieren diese Situation stets aufs Neue. Eine entscheidende Frage im Anschluss an diese Diagnose wäre: wie ein ‚weibliches Subjekt‘ anders denken und gedacht werden kann. Damit haben sich Horkheimer und Adorno sowie ihre Kollegen aus dem Institut für Sozialforschung aber nicht weiter befasst (1). Hier existiert eine Leerstelle – oder anders formuliert: ein großes Aufgabenfeld für feministische Studien.
Einige Beiträge des Sammelbandes setzen hier an ( Stögner, Colligs, Wilhelm, Kirchhoff, Umrath). Die Autorinnen rekonstruieren Thesen zu Weiblichkeit, Identität und Subjekt an verschiedenen Texten der Theoretiker. Bemerkenswert ist eine daraus resultierende Kritik an Judith Butler sowie an queerfeministischen Positionen zur Identität: „Die mangelnde Reflexion auf die materialistische Dimension von Identität und die Auflösung von Objektivität in intersubjektive Verhältnisse führt dazu, dass in gewisser Weise offen bleibt, warum bestimmte Herrschaftsformen sich als so hartnäckig erweisen“ ( Colligs 244).
Andere Beiträge, die sich mit Diskussionen um eine poststrukturalistische Ausrichtung des Feminismus ( Benhabib, Fraser, Cyfer, Lopes) beschäftigen, zeigen aus einer gesellschaftstheoretisch kritischen Sicht die problematische Engführung dieser Ansätze, die maßgeblich zu einer Entpolitisierung der Frauenbewegung und Geschlechterforschung beigetragen hat.
Die Notwendigkeit aktueller kritisch soziologischer Analysen, die die konkrete Lebenspraxis von Frauen untersuchen, wird in weiteren Beiträgen eingefordert ( Jaeggi, Becker-Schmidt, Speck).

IV

Meinens Erachtens ist es ein Versäumnis, dass die Herausgeberinnen vermieden haben, den Begriff der Kritischen Theorie einzugrenzen. Es fehlt ein Minimalkonsens, dass Kritische Theorie vor allem ein kritisches Denken ist: ein ideologiekritisches Konzept zur Reflexion gesellschaftlicher Totalität, mit dem Phänomene der Wirklichkeit in ihrer Ambivalenz analysiert und erklärt werden können. Dieser Anspruch wird in einigen Beiträgen nicht eingelöst.
Es ist bedauerlich, dass die Arbeiten und Positionen der feministischen Philosophinnen aus Frankreich und Italien nicht einbezogen wurden. Auch wenn sie sich nicht explizit auf die Theoretiker der Kritischen Theorie beziehen, haben sie deren Problemstellungen weitergedacht.

V

An der Kritik der Engführung konstruktivistischer Positionen zeigt sich das weiter aktuelle Potential der Kritischen Theorie.
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(1) Daraus eine verallgemeinernde Kritik einer ‚androzentristischen Sichtweise‘ in der Kritischen Theorie zu machen, wie sie in mehreren Beiträgen formuliert wird, ist nicht haltbar.

3/2022

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