Das Dilemma

„ ‚Das Problem ist nicht neu: „Die Menschheit ist männlich und der Mann definiert die Frau nicht als solche, sondern im Vergleich zu sich selbst; sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen’ (Simone de Beauvoir 1998, 12). So hat es schon Simone de Beauvoir in der Einleitung zu ihrem Buch ‚Das andere Geschlecht’ 1)(1949/1951) formuliert. Obwohl dieses Buch zu einem Kultbuch diverser Generationen von Frauen in aller Welt wurde, blieb sein philosophischer Gehalt lange verkannt. Simone de Beauvoir vertrat selbst lange Zeit die Überzeugung, zu der sie nach einer ersten ernsthaften Diskussion mit Jean-Paul Sartre im Jardin du Luxembourg 1929 gekommen war: Sartre sei der Philosoph und sie die Schriftstellerin (Toril Moi 1996, 40). Erst allmählich erkennt sie, die immer behauptet hatte, „dass ich eine Frau bin, hat mich in keiner Weise behindert“ (Simone de Beauvoir 1970, 97), ihre Fehleinschätzung. Durch ihre intensiven Studien zur Situation der Frau in Gesellschaft, Wissenschaft, Literatur und Mythologie kommt sie zu der oben zitierten Erkenntnis. Sie sieht sich gezwungen ihre ursprüngliche Leitfragen für das Buch: was ist eine Frau? gibt es überhaupt Frauen? umzuformulieren. Sie erkennt, dass das Problem woanders liegt, nicht in einer Definition des Frauseins, sondern in einer Untersuchung ihrer Abhängigkeit: „Woher kommt diese Unterwerfung bei der Frau“? (Simone de Beauvoir 1998, 14). Die Umformulierung dieser Fragestellung bedeutete einen Meilenstein in der Entwicklung feministischen Denkens.

Sich nicht länger bei den Definitionsfragen von Geschlecht aufzuhalten, wie es heute immer noch im gender-Diskurs praktiziert wird, sondern nach der strukturellen Beziehung zwischen den Geschlechtern zu fragen, eröffnete neue Denkhorizonte. Ein Grundakt philosophischen Denkens besteht in der Setzung eines geschlechtsneutralen Subjekts als das Absolute – wodurch die Frau zum Objekt desselben wird. Diese Konstruktion bewirkt nicht nur eine reale Abhängigkeit zwischen den Geschlechtern, die Frau als Sexualobjekt des Mannes, wie es lange Zeit verstanden wurde, sondern sie konstituiert ein operatives Denkmuster des philosophischen Diskurses.

Das Dilemma der Frau besteht nun darin, sich nicht als autonomes Selbst denken zu können. Wenn das Subjekt geschlechtsneutral-männlich ist, wird die Frau zum abgeleiteten, ebenfalls geschlechtslosen Anderen. Als Frau ist sie nicht Subjekt und als Subjekt ist sie nicht Frau. So entsteht ein doppeltes Abhängigkeitsproblem: Als Frau gilt sie in unserer kulturellen Tradition und in unserem Denken als das andere des Mannes; zugleich ist sie die (absolut) Andere, aber ohne sprachliche und symbolische Mittel, sich als solche auszudrücken (Anke Drygala 2005, 91f).

In der überwiegend sozialwissenschaftlich und gesellschaftskritischen Rezeptionsgeschichte des Buches in Deutschland, als deren Hauptprotagonistin sich bis heute Alice Schwarzer hervortut 2) , kam es zu einer einseitigen Interpretation von Abhängigkeit als Benachteiligung. Dadurch trat die ökonomische Situation der Frau in den Vordergrund der Diskussionen. Das war deshalb nicht falsch, weil Simone de Beauvoir darin die Voraussetzung für ein selbst bestimmtes Leben als Frau sah. Aber letztlich hat diese Sichtweise dazu geführt, dass die vor allem in der Einleitung des Buches dargelegten philosophischen Gedanken zur Konstruktion des Geschlechterverhältnisses vernachlässigt wurden. Heute nun zeigt sich, dass sich trotz gewisser Erfolge der Frauen in ökonomischer Hinsicht, der Verwirklichung von Teilhabe an politischen und wirtschaftlichen Prozessen, an den Konstruktionsprinzipien des Geschlechterverhältnisses nichts geändert hat. Um in der bestehenden Gesellschaft ‚Erfolg’ zu haben, müssen Frauen so werden wie Männer oder noch besser sein. In den Begriffen von Simone de Beauvoir bedeutet das lediglich, dass Frauen die Rolle des (männlichen) Subjekts übernehmen – damit sind sie aber noch keine ‚Frauen’.

(Anke Drygala: Feministische Philosophie. Die Macht der Schatten(Bilder)
und die Anstrengung des Denkens. Unveröffentlich 2013)


1) Im französischen Original heißt das Buch ‚Le deuxième sexe’ und betont also viel deutlicher die Zweitrangigkeit der Frau.

2) Und seit Jahrzehnten einen entscheidenden Satz immer wieder falsch zitiert: ’man wird nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht! – wo es doch im Original heißt: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt“ (Simone de Beauvoir 1998, 334). Es ist keine äußere Macht, die das Geschlechtsein prägt, sondern es ist eine Wahl des weiblichen Subjekts selbst.

 

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