Feministische Epistemologien

Ein Reader

Herausgegeben von Katharina Hoppe und Frieder Vogelmann

Berlin 2024

 

„ Spielt es eine Rolle, welches Geschlecht Wissende haben? Strukturiert Geschlecht unsere Wissenspraktiken, ja sogar die Ergebnisse der Wissenschaften? Schon diese Fragen nicht nur rhetorisch zu stellen und routiniert mit ‚natürlich nicht‘ zu beantworten, erhitzt die Gemüter. Warum sollten Geschlechterverhältnisse etwas mit Wissenschaft zu tun haben, einer Unternehmung, die doch für Neutralität und Objektivität steht?“ (K. Hoppe/ F. Vogelmann 7)

 

I

Muss diese Frage heute wirklich noch ernsthaft so gestellt werden? Nach Auffassung der beiden HerausgeberInnen offensichtlich ja. Sie wollen einer weitervorhandenen Abwehrhaltung etwas entgegensetzen: einen Reader, in dem sie die „vielstimmige Debatte um feministische Epistemologien von ihren Anfängen bis heute nachzeichnen (K. Hoppe / F. Vogelmann 9).

Der Reader enthält sechzehn Beiträge von Wissenschaftlerinnen vorwiegend aus dem us-amerikanischen Kontext. Die Texte sind in dem Zeitraum von 1978 bis 2021 entstanden, insofern zeichnen sie eine historische Entwicklung nach.

Katharina Hoppe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt,  Frieder Vogelmann ist Professor für Epistemology and Theory of Science an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

 

II

Die HerausgeberInnen gliedern die Beiträge systematisch in drei Teile: Genese, Grundlagen und Gegenwart.

Was aber ist Feministische Epistemologie beziehungsweise was verstehen die HerausgeberInnen darunter? Sowohl die Definition von Feminismus als auch das Verständnis von Epistemologie hat sich seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts verändert – darauf wird aber nicht explizit eingegangen. Der Begriff Geschlecht steht heute zur Disposition ebenso der der ‚Frau‘.

Was ist der Ausganspunkt ihrer Darstellung? Die Formulierung bleibt vage: Wir „verstehen unter feministischen Epistemologien all jene Positionen, die über die Produktion, Verarbeitung und Weitergabe von Wissen – kurz über epistemische Praktiken – nachdenken und sich darum bemühen, Begriffe auszuarbeiten, mit denen diese epistemischen Praktiken angemessen erfasst und weiterentwickelt werden können“(K. Hoppe / F. Vogelmann 11). Im Vergleich zur klassischen Epistemologie erkennen sie innerhalb feministischer Epistemologien einen Vorrang an wissenschaftstheoretischen Überlegungen.

 

III

Aus historischer Sicht ist der Beitrag von Nancy Hartsock  „Der Feministische Standpunkt. Grundlagen eines spezifisch feministischen historischen Materialismus“ (1983) besonders interessant. Sie argumentiert, dass die Situation von Frauen im kapitalistischen System strukturell anders ist als die von Männern: die geschlechtliche Arbeitsteilung ist deren Grundlage. Frauen ( genauer müsste es heißen Frauenrollen) definierten sich primär über die Produktion von Gebrauchswerten im Haushalt und empfanden ihr Selbst als sekundäres. Mit dem Focus auf der strukturellen Situation der Frauen konnte die Standpunkttheorie wissenschaftstheoretisch gut begründet werden, aber sie eröffnete keine genuin feministische Sicht.

In der Folge erweitert sich die Standpunkt-Theorie zu einem Ansatz, der die Situation aller marginalisierter Gruppen erfasst, also nicht nur die soziale Klasse, sondern auch Zugehörigkeiten aufgrund der Hautfarbe, sexueller Orientierungen oder der Ethnizität. In der Perspektive  der Unterdrückung und Marginalisierung entsteht ein anderes Bild auf Machtverhältnisse und Abhängigkeiten,  sie trägt zur Erweiterung gesellschaftlichen Wissens bei.

In der 80er Jahren kommt es zu einer Differenzierung der Standpunkt-Theorie, vor allem bezüglich des Objektivitätsbegriffs. Von Donna Haraway wurde das Theorem des ‚situierten Wissens’ begründet (1987). Poststrukturalistisch inspiriert sagt sie: „Mir würde eine Lehre verkörperter Objektivität zusagen, die paradoxen und kritisch-feministischen Wissenschaftsprojekten Raum böte: Feministische Objektivität bedeutete dann ganz einfach situiertes Wissen “ (D. Haraway, 282).

Sandra Harding begründet eine Position der ‚starken Objektivität‘ (1993). Sie ist das Gegenteil eines klassisch auf Neutralität verpflichteten Objektivismus: „Eine maximal kritische Untersuchung von WissenschaftlerInnen und ihren Gemeinschaften kann jedoch nur aus der Perspektive derer erfolgen, deren Leben durch diese Gemeinschaften marginalisiert wurden“ ( S. Harding 340).

Der ursprüngliche Ansatz einer feministischen, also partialen Epistemologie entwickelt sich weiter zu einer allgemeinen Kritik von Wissenspraktiken. Dabei gerät auch  das sogenannte Nicht-Wissen in den Blick. Nancy Tuana analysiert es exemplarisch an der Untersuchung des weiblichen Orgasmus‘: „Zur Erkenntnis kommen . Der Orgasmus und die Epistemologie des Nichtwissens“ (2004).

Gurminder K. Bhambra hat gar keinen  feministischen Ansatz  mehr (2021). Sie versucht , „Kritische Theorie [zu] dekolonisieren. Epistemologische Gerechtigkeit, Fortschritt, Reparationen“. Dabei ist unklar, was sie unter Kritischer Theorie versteht, jedenfalls nicht die dieser Theorie implizite Erkenntnistheorie.

Linda M. Alcoff untersucht den „Eurozentrismus als eine Epistemologie des Nichtwissens“(2017). Sie zeigt eine andere Entwicklung der Moderne als wir sie normalerweise kennen.

 

IV

Ja, es gibt eine Ausweitung des Wissens durch feministische Forschung, ja, sie hat sich auf andere Forschungsbereiche ausgeweitet.

Was  aber das ‚Feministische‘ an den versammelten Beiträgen ausmacht, bleibt offen. Die anfangs formulierten Fragen nach dem Zusammenhang von Geschlecht und Wissen werden nur exemplarisch beantwortet.

 

V

„Im Westen haben feministische, postkoloniale und dekoloniale Philosophien sowie die Critical Race Theory  kürzlich ihre Perspektive erweitert und treten energischer auf, aber sie sind nichts vollkommen Neues. Außerhalb des Westens hat die Kritik nie nachgelassen. Das  dekoloniale Denken kam auf, um die europäische intellektuelle Einsprachigkeit herauszufordern, sobald die Eroberungen begannen….Dass sich die westliche Philosophie endlich dem längst überfälligen Austausch mit ihren nichtwestlichen KritikerInnen widmet, ist das einzige Mittel gegen die Epistemologie des Nichtwissens“ ( Linda Martin Alcoff, 570).

 

12/2024

 

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