Alenka Zupančič
Was ist Sex? Psychoanalyse und Ontologie
Wien 2020 (2)
„ Was ist Sexualität eigentlich? Weit davon entfernt, den Menschen an sein tierisches oder natürliches Erbe zu binden, ist Sexualität der problematische Bereich des Seins, der uns aus der Bahn zu werfen scheint, unsere Welt aus den Fugen geraten lässt und uns gleichzeitig mit Hingabe all das betrieben lässt, was für die menschliche Gesellschaft charakteristisch ist: Politik, Kunst, Wissenschaft, Liebe, Religion…“ (71)
I
Alenka Zupančič hat ein Buch zum Thema ‚Was ist Sex?‘ herausgegeben. Es enthält in vier Abschnitten eine Sammlung von Aufsätzen zur Beantwortung dieser Frage.
Die Autorin gehört zur Ljubljana School of Psychoanalysis, einer Gruppe marxistisch orientierter Lacan-Anhänger.
II
Sigmund Freuds Denken versteht sich als Gegenentwurf zu klassischen Wissenschaftsdisziplinen. Seine Idee der Psychoanalyse als Theorie, Praxis und Methode ist an sich anti-philosophisch und anti-metaphysisch.
Dennoch möchte Alenka Zupančič ihre Frage philosophisch erörtern, um das Grunddilemma einer Definition von Sexualität in seiner Widersprüchlichkeit zu analysieren. Damit intendiert sie einerseits eine Gegenargumentation zur gender-Theorie und Identitäts-Politik, andererseits eine philosophische Fundierung Lacanscher Theorie.
III
Gegen den Zeitgeist postuliert sie, „dass Sexualität in der Psychoanalyse vor allem ein Begriff ist, der eine andauernde Widersprüchlichkeit in der Realität formuliert“ (11) und dass diese Widersprüchlichkeit „als Widersprüchlichkeit- an der Strukturierung dieser Wesenheiten [Seinsformen, AD] selbst beteiligt ist, an ihrem Sein selbst“ (11). So möchte Alenka Zupančič das Verhältnis von Psychoanalyse und Philosophie neu denken als „ontologische Inkonsistenz“ (80).
Sexualität ist weder biologisch, moralisch noch sozial zu begründen. Sie hat einen „paradoxen ontologischen Status“ (71), der sich uns als epistemologisches Problem zeigt. Sexualität resultiert aus einem Mangel an einer letzten Instanz, einem Urgrund, auf den sie zurück zu führen wäre. Handelt es sich um einen ‚Riss‘ im Sein, einen Verlust, einen Mangel, eine Negativität am Ursprung der Subjektivität? Wie könnte diese Instanz, dieses Moment bezeichnet werden?
Sigmund Freud selbst bezeichnet seine Überlegungen zur Entstehung von Leben in ‚Jenseits des Lustprinzips‘ (1920) explizit als Spekulation. Wie sich der Übergang vom Anorganischen zum Organischen vollzogen hat, wie die Entstehung von Bewusstsein und Unbewusstem vorzustellen ist, es entzieht sich unserem Wissen. Aber es gibt ein unauflösbares Spannungsverhältnis am Anfang des Lebens, das in unserer Psyche virulent ist. Diese Ambiguität, Ambivalenz oder wie auch immer es benannt werden kann, darf nicht vereinfacht oder aufgelöst werden, wenn es darum geht, die Dynamik der Sexualität zu begreifen.
Diese These wird in vier Abschnitten behandelt: 1. It’s getting strange in here…; 2. and even stranger out there; 3. Widersprüche von Gewicht; 4. Objekt-desorientierte Ontologie mit teilweise weit ausholenden Bezügen auf andere Theoretiker wie Slavoj Žižek, Gilles Deleuze, Alain Badiou.
IV
Alenka Zupančič erörtert die zentrale Frage des gegenwärtigen Geschlechterdiskurses: wie Sexualität und Identität zu begründen sind. Sie liefert Argumente gegen eine vereinfachende Gender- Konstruktions-Theorie und eine missverstandene Identitätspolitik, die in Ideologie umkippt.
Das Buch ist allerdings schwer lesbar, weil die These nicht systematisch entwickelt wird, sondern einen sich entwickelnden Reflexionsprozess über mehrere Jahre wiedergibt.
V
„Die Märchen, mit denen wir Kindern die Sexualität erklären, gibt es nicht so sehr, um eine realistische Erklärung zu maskieren oder zu verdrehen, sondern um die Tatsache zu maskieren, dass es keine realistische Erklärung gibt und dass selbst der ausführlichsten wissenschaftlichen Erklärung an dem Signifikanten mangelt, der dem Sexuellen als Sexuellem gerecht werden würde.“ (283)
4/2023