Nastassja Martin
„Im Osten der Träume“
Antworten der Even auf die systemische Krise
Aus dem Französischen von Claudia Kallscheuer
Berlin 2024 (2022)
„In einer Welt, die brutalen und unerwarteten atmosphärischen Schwankungen ausgesetzt ist und von Tieren bewohnt wird, deren verändertes Verhalten alle traditionellen Kategorien des Verständnisses implodieren lässt, sind alle gezwungen, ihre gängigen Denkweisen infrage zu stellen, ob sie es offen tun (wie die Gwich’in) oder auf indirekte, beiläufige Art (wie die Even). Alle, das heißt auch wir, mit unseren Wissens- und Restitutionsregimes; die Methode der Produktion von anthropologischem Wissen sowie seine klassischen Gegenstände infrage zu stellen, ist nicht mehr nur eine bloß intellektuelle Option, sondern Ausdruck einer verstärkten Aufmerksamkeit für diejenigen, die unsere Artikel, Bücher, Filme bevölkern, und mehr noch eine Art, sich einem Anders-Werden zu öffnen“( N.M. 222/3).
I
Eigentlich ist es unmöglich über dieses Buch zu schreiben. Die Autorin verweigert sich konsequent einem linearen, systematischen Schreibstil und reagiert damit auf die Besonderheit des von ihr Erzählten. Das macht das Buch spannend und interessant. Für die LeserInnnen wird es zu einer permanenten Herausforderung, werden doch ständig ihre eigenen Denkvoraussetzungen hinterfragt und unterlaufen.
Anknüpfend an die strukturale Anthropologie Claude Lévi-Strauss‘, die Thesen zur Transformation von GAIA von Bruno Latour und die Analysen ontologischer Bilderwelten von Philippe Descola ist in Frankreich ein interessanter Diskurs entstanden, aus dem inspirierende Impulse für ein Umdenken der gegenwärtigen Öko-Krise und der Klimaveränderung entstanden sind. Gegen den Trend technologischer Krisenbewältigung durch noch mehr Maschinen und Interventionen wird eine Alternative in der Veränderung unseres Verhältnisses zur Natur/Welt aufgezeigt.
Bedauerlicherweise kam es nie zu einer Auseinandersetzung der strukturalistischen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, den formalisierenden Ontologien von Philippe Descola mit der philosophischen Reflexion des Mythos in der Deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Die Arbeiten von Aby Warburg, von Ernst Cassirer zur ‚ Philosophie der symbolischen Formen‘ und Hans Blumenbergs zur nie endenden ‚Arbeit am Mythos‘ sind gegenwärtig komplett vergessen.
Die französische Anthropologin Nastassja Martin geht nun einen eigenen Weg, zwar mit den Konzepten von Claude Lévi-Strauss und Philippe Descola im Kopf – aber sich zunehmend von diesen lösend. Sie begibt sich auf eine Gratwanderung zwischen westlichen Denkmustern und den Vorstellungen eines autochthonen, animistisch denkenden Kollektivs in Kamtschatka. Für sie ist der Animismus nicht ‚Form‘, sondern ‚Inhalt‘ – eine gelebte Wirklichkeit.
II
Angeregt durch ihre Forschungsarbeiten über die Geistvorstellungen der Gwich’in in Alaska wollte Nastassja Martin herausfinden, wie die Stämme jenseits der Bering-See in Sibirien/Kamtschatka leben und denken.
In dem Kollektiv der Even, einem ehemals nomadischen Stamm von Rentierhaltern findet sie eine unerwartet spannende Konstellation. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989, in der die Even ‚zwangssozialisiert‘ wurden, zerbrach ihre Lebensgrundlage. Einige Familien des Stammes gehen zurück ‚in den Wald‘, um ihre autochthone Lebensweise wieder aufzunehmen. Nun aber nicht mehr als Nomaden, sondern als sesshafte Jäger, Fischer und Sammler. Wie schaffen sie diese doppelte Transformation, zurück aus der Moderne in die Tradition, vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit?
Nastassja Martin hat in dem Zeitraum von 2014 bis 2019 monatelang mit den Even gelebt und sie begleitet. 2015 erlebte sie ein Zusammentreffen mit einem Bären, bei dem sie schwere Verletzungen erlitt. Diese Begegnung ließ sie paradoxerweise noch tiefer in das Welt-Verständnis der Even eintauchen.
In dem vorliegenden Buch berichtet Nastassja Martin von ihren Beobachtungen, Erlebnissen und Gedanken. Für die Publikation hat sie ihr Material auf die Fragestellung ausgerichtet: Wie kann ein Austreten aus einem alles normierenden politischen und ökonomischen System vorgestellt werden? „Was uns die Erfahrungen dieser autochthonen Kollektive zeigen, die sich den instituierten Formen widersetzen, indem sie unerwartet existentielle Entscheidungen treffen, ist, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf das richten müssen, was am Ort der Begegnung zwischen divergierenden Welten entsteht, trotz ihrer an sich inkommensurablen Größenordnungen“ ( N.M. 76). Ein Zurückdrängen der institutionalisierten Formen, die unser gesellschaftliches Leben regulieren, lässt das Konkrete wieder zum Vorschein kommen. Für Nastassja Martin ist es die Entdeckung einer prinzipiellen ‚Instabilität der Welt‘, die das Leben der Even prägt. Diese Instabilität wird zum Ausgangspunkt „einer neuen existentiellen Kreativität“ (N.M. 76).
III
Das Buch besteht aus fünf separaten Teilen, ich beziehe mich hier auf den dritten Teil über ‚Akzidentielle Kosmologien‘, in dem das Weltverständnis der Even vorgestellt wird.
Das Kollektiv der Even hat keinen Schamanen mehr, keinen Experten, der zwischen den menschlichen Wesen und den umgebenden Mächten vermitteln kann. Das heißt, sie mussten sich ihre traditionellen Einstellungen und Rituale neu aneignen. Ihre größte Herausforderung war es, in Kontakt zu dem ‚Anderen‘, den anderen Existenzweisen, den Pflanzen, Tieren und Elementen zu treten. Ihr wichtigstes Medium ist der Traum, in dem die Begegnung mit Geistwesen möglich ist. Ihre Rückkehr in den Wald war durch diese zwei Herausforderungen geprägt: „die Wiederkehr der performativen Träume und die Neuerfindung einer Lebensweise, die eine konkrete und alltägliche Beziehung zu den Lebewesen eines spezifischen Milieus beinhaltet“ (N.M. 108).
Ihre Alltagspraxis richten die Even an folgenden Leitgedanken aus:
Die Welt ist zufällig entstanden, es gibt keinen Schöpfer und keinen Ursprung, alle Existenzweisen haben ihre Berechtigung. In den alten Geschichten wird von dieser ‚akzidentiellen Kosmologie‘ erzählt.
Ausgangspunkt für Kommunikation, Reflexion und Sprache sind die Begegnungen zwischen den menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten. Sie bestimmen das Leben.
Gedanken können sich materialisieren. Für die Even existiert eine ‚performative Kraft der Gedanken‘. Darum bedarf es außerordentlicher Achtsamkeit, unerwünschte Gedanken nicht auszusprechen.
Der Traum ist ein Medium, in dem die Kommunikation mit den ‚Anderen‘ stattfindet. Nicht der projektive Traum der Freud’schen Psychoanalyse, sondern der Traum, in dem die bewusstseinsmäßige Kontrolle aussetzt und Begegnungen mit anderen Seelen möglich werden. Über diese Fähigkeiten verfügen nicht alle Mitglieder des Kollektivs, einige aber haben diese Sensibilität.
Es gibt ein ‚Außen‘, diese Vorstellung von Welt ist für die Even konstitutiv. Ihr größtes Ziel ist es, die Balance zwischen divergierenden Kräften herzustellen und zu erhalten.
Nastassja Martin kommentiert: „Der ursprüngliche Dialog, der mit dem Ende der Zeit des Mythos und der Speziation aufhört, tut dies bei Weitem nicht für immer. Im Gegenteil, diese Karte der Beziehungen zu anderen Lebewesen bleibt für das Denken zugänglich, und zu diesem Denken zurückzukehren bemühen sich die uns interessierenden Kollektive, um eine Wendung, eine Umkehr, eine Metamorphose zu erlauben, wenn sie sich mit bestimmten blockierten Situationen konfrontiert sehen – vitale Ungewissheiten aufgrund von schwierigen meteorologischen Bedingungen, entfesselten Elementen, Tieren, die verschwinden oder sich auf erratische und unbegreifliche Weisen verhalten usw. Wie kann man den Dialog mit den Wesen, die wir zum Leben brauchen, wieder aufnehmen, wenn unsere Körper nicht mehr die nötigen Dispositionen haben, um sich zu verstehen?“ (N.M. 145)
Diese Frage stellt sich den Even, könnte aber auch für unsere Gesellschaft relevant werden.
IV
In ihrer Gratwanderung zwischen den divergierenden Welten kapitalistischer Systeme und einem autochthonen Kollektiv lässt Nastassja Martin anschaulich werden, was es bedeutet ‚im Wald‘ zu leben, was es bedeutet, mit den Seelen von Tieren und Elementen in unmittelbarem Kontakt zu stehen und was es bedeutet, Selbstversorger zu sein.
Sie reflektiert ihre eigenen Zweifel, ihre Fragen, um sich immer mehr der ‚Logik des Anderen‘ zu nähern. Das ermöglicht den LeserInnen eine Teilhabe, ihnen wird nicht, wie in vielen anthropologischen Studien eine andere Welt präsentiert, sondern sie nehmen teil an diesen Grenzerfahrungen, bei dem das eigene Denken sich auflöst und das ‚Andere‘ nicht fassbar ist.
Nastassja Martin hat eine große intuitive Kraft und eine außerordentliche Sprachbegabung, sich auszudrücken. In der Even-Frau Darja findet sie eine kongeniale Partnerin, die sie in ihrer Forschung unterstützt.
Das Buch ist irritierend, inspirierend und ermutigend. Für den feministischen Diskurs zeigt es exemplarisch das Potential selbst denkender, sensibler Frauen.
V
In all den Reflexionen schwingt mit, dass die gegenwärtige Krise unseres sozio-ökonomischen und geopolitischen Systems nicht auf technologische Weise bewältigt werden kann. Die Transformation in eine andere Lebenswelt, in der ein Zusammenleben mit anderen Existenzweisen in gegenseitigem Respekt möglich sein wird, bedarf einer radikalen Wandlung des menschlichen ‚Subjekts‘ und seiner mentalen Disposition. Eine Öffnung gegenüber dem ‚Anderen‘ erfordert subtile Wahrnehmungsfähigkeiten und offene, flexible Kommunikationsweisen.
Diese Notwendigkeit wird in den gegenwärtigen Diskussionen zur Klimakrise und zum erforderlichen Wandel unseres sozio-ökonomischen Systems komplett ausgeblendet.
„ Es ist möglich, den Zusammenbruch aller uns bekannten Strukturen zu überleben, wenn wir die umfassende Totalität der Welt, in der wir leben sollten, niederreißen, um sie uns zurückzunehmen, Stück für Stück, Wesen für Wesen“ (N.M. 175).