Emilie Hache: Aus der Erde geboren. Ein neuer Mythos für Erdverbundene*

in: Bruno Latour. Peter Weibel: Critical Zones. Die Wissenschaft von der Politik des Landens auf der Erde.

ZKM Karlsruhe 2021

 

„ Mag der Ausdruck ‚Mutter Erde’ noch so verstaubt und unpassend erscheinen, er drückt doch etwas aus, das uns heute deutlich vor Augen tritt, das aber erst nach langer Zeit wiederendeckt und auch benannt werden konnte: unsere Verbindung zur Erde. Hinter diesen abgenutzten Worten profiliert sich ein neuer Schöpfungsmythos, ein neuer Mythos für Erdverbundene.“ (Émilie Hache,  92)

 

I

Im Zentrum für Medien und Kunst Karlsruhe haben Bruno Latour und Peter Weibel 2020/21 eine Ausstellung zum Thema ‚Critical Zones. Horizonte einer neuen Erdpolitik‘ organisiert. Zu dieser Ausstellung gibt es einen umfangreichen Katalog mit wissenschaftlichen Beiträgen diverser Disziplinen (und einen kleinen Katalog auf deutsch mit einer Auswahl von Schlüsseltexten).

Es geht um eine neue Geopolitik, das Terrestrische und die Theorie von GAIA. So wird die die Erde umgrenzende Hülle, in der Leben existiert, von Bruno Latour und seinen Kollegen bezeichnet. Anders als die Formulierungen erwarten lassen, ist das Ziel der Autoren eine Entmythologisierung unserer Auffassung von Welt und eine Re-Politisierung des Lebens.

In Bruno Latours Überlegungen hat das Thema des Geschlechterverhältnisses keine Priorität. Aber im Kontext dieser Ausstellung hat Émilie Hache, Professorin für ökologische Philosophie an der Université Paris/Nanterre die Aufgabe übernommen, die Konsequenzen der Theorie von GAIA feministisch zu reflektieren.

 

II

Bruno Latour (1947 – 2022) ist ein Denker der Turbulenzen unserer Gegenwart. Eigentlich Soziologe und Wissenschaftsphilosoph hat er sich in den letzten Jahren mit der sogenannten Klima-Krise beschäftigt. Aufgrund neuester wissenschaftlicher Studien über die Erdoberfläche und die als Klimawandel bezeichneten atmosphärischen Veränderungen resümiert er, dass wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich unser Planet Erde, bzw. die ihn umhüllende Schicht (Critical Zone), selbst generiert hat und  dass wir heute beobachten können, dass es so etwas wie eine Selbstregulation von Leben in der uns umhüllenden Schicht gibt. Zu sagen, die Natur ‚reagiert‘ auf unsere Interventionen, reicht als Erklärung nicht mehr aus. Diese neue Dimension unseres Denkens, nach dem ‚Lokalen‘ und dem ‚Globalen‘, nennt Bruno Latour das ‚Terrestrische‘.

Die Klimakrise erweist sich so als Symptom für einen notwendigen Epochenwandel und erfordert ein konsequentes Denken in neuen Dimensionen. Es bedeutet konkret, unsere Vorstellung von der Erde, der Natur und dem Leben grundsätzlich zu überdenken. Und eben auch das Geschlechterverhältnis.

 

III

Émilie Hache  vertritt die These, dass wir neue ‚Erzählungen‘, Mythen für unsere Verbindung zur Erde brauchen. In welcher Weise sind  die Geschlechter, also Frauen und Männer, an GAIA gebunden und in welcher Weise tragen sie Verantwortung für die Existenz und Erhaltung von GAIA ? An welchen Vorstellungen können wir uns  orientieren?

Émilie Hache argumentiert wie folgt:  Traditionell gab es in den Mythen der europäischen Kultur die Gleichsetzung von Frau und Natur/Leben. Durch die Moderne wurde diese Vorstellung ausgelöscht, die Natur verlor ihre ‚Autonomie‘. Die Unterwerfung der Natur durch die Industrialisierung führte auch zur Auslöschung des Weiblichen, das Bild der Frau wurde auf Fortpflanzung und Sex reduziert.

Die Analogie von Frau und Erde/Leben war lange Zeit überzeugend, weil scheinbar anschaulich. Aber GAIA ist weder mütterlich noch fürsorglich und überhaupt keine einheitliche, homogene, stete Substanz, sondern eine komplexe Wirkungsmacht, in der viele verschiedene Lebensformen interagieren, von denen wir (Menschen) nur ein Teil sind.

Im griechischen Mythos (Demeter-Kult) und in der Kultur indigener Völker gab es noch eine Praxis der Verehrung und des Dankes gegenüber dem Leben. Dahin gibt es aber kein Zurück. Wir haben heute ein anderes Wissen, was Leben ausmacht und das erfordert neue Begriffe, um es uns bewusst zu machen.

Émilie Hache zieht eine erste Schlussfolgerung für ein anderes Geschlechterverhältnis: wir müssen anerkennen „… die Leben hervorbringende Erde ist die Erzeugerin der gesamten Menschheit, von Männern und Frauen. Eben dieser Aspekt der Analogie zwischen Erde und Frau schien problematisch, da häufig der Einwand formuliert wurde, dass hier die fruchtbare Erde nur mit der weiblichen Hälfte der Menschheit in Verbindung gebracht würde.“ (91)

Wir brauchen also Erzählungen, die diese „tiefgreifende  Form der Zugehörigkeit [ von Frauen und Männern, AD] ausdrückt und uns zu einer Beteiligung an der Erneuerung der Welt auffordert, durch unsere Praxis des Pflegens, Heilens, Erfindens von Geschichten, des Lebens und des Todes“ (92) Émilie Haches Überlegungen sind ein erster Schritt, sofort entstehen weitere Fragen: wie sieht es aus mit der Geschlechterdifferenz, wie können wir den allseitigen Austausch mit anderen Lebensformen denken, was bedeutet Verantwortung für GAIA?

 

IV

Schon Luce Irigaray hatte gesagt: „Alles muss (neu) erfunden werden“ ( Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts 1980, 283) . Ja, aber nicht nur aus der Perspektive der Frau, die ihren Platz in der symbolischen Ordnung einfordert, sondern in Bezug auf GAIA, dem Ursprung unseres Lebens.

Das bedeutet eine Herausforderung für den feministischen Diskurs, aber besonders für die feministischen Philosophinnen. Denn zur Disposition stehen nicht nur alte Vorstellungen und Bilder der Natur und des Weiblichen, sondern auch Kategorien und Denkformen. Unser Leben in GAIA ist ein Austausch mit unzähligen anderen Lebensformen, es gibt keine Sonderstellung des Menschen mehr. Wie sollen wir dieses Geflecht denken, was bedeutet noch Einheit, Kausalität oder Subjekt?

 

V

In  GAIA zu leben kann nicht dasselbe bedeuten wie als Mensch in der Natur leben“ (Bruno Latour. Peter Weibel, 17)

 


*

Im Französischen heißt der Beitrag von Émilie Hache:

„Né es de la terre. Un nouveau mythe pour les terrestres”.

Auf englisch: “Born from earth. A new myth from earthbounds”

Der Begriff wurde zunächst auf Deutsch als ‘Erdverbundene‘ übersetzt (2018). Später nach der Erfahrung der Pandemie (2021) als ‚Erdverhaftete‘.

M.E. sind die Begriffe „ le terrestre“ und das „Terrestrische“  präziser, weil sie explizit auf das neue Paradigma verweisen und nur in diesem Zusammenhang aussagekräftig sind.

 

11/2023

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